Interview zur Geschichte der Impfungen und Impfkritik mit der Medizinhistorikerin Dr. Alessandra Parodi-Zimmermann

Sie sind Medizinhistorikerin?

Ja, und mit Leidenschaft. Ich komme aus der Philosophie, insbesondere aus der Wissenschaftstheorie, habe mich mit der Dissertation in Richtung Theorie der Medizin und Geschichte der Medizin bewegt; es ging um Kausalitätskonzepte. Zurzeit arbeite ich an einer komparativ angelegten Habilitationsarbeit über Infektionskrankheiten in der Zeit der Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus.

 

Was bedeutet die Berufsbezeichnung „Medizinhistorikerin“ für Sie?

Der Sinn für die historische Tiefe der Wissenschaften ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Berufsvorbereitung, insbesondere für Mediziner – und die Medizinstudierenden. Dadurch versteht man die Kontinuitäten und Brüche der eigenen Disziplin und impft sich gegen Dogmatismus.

 

Was ist Ihr wissenschaftlicher Bezug zum Thema Impfungen und ist dies eine Arbeitsfeld von Ihnen, auch in der Lehre?

Das Thema Infektionskrankheiten, das mich gerade beschäftigt, hat mich in meiner wissenschaftlichen Arbeit zur Impfungsdiskussion geführt, zuerst über die Diphtherie. Dann habe ich mich im letzten Semester in der Lehre dem Problem der Impfskepsis und Impfgegnerschaft gewidmet, als Beispiel einer historischen Perspektive in einer aktuellen Diskussion.

 

Wann wurde das Konzept der Immunität (eine durchgemachte Seuche schützt vor weiteren Ansteckungen) erstmals beschrieben?

Die Beschreibung, die als erstes Zeugnis des Immunitätsgedanken gilt, stammt von einem Historiker: Thukydides (5. Jh. vor Chr.) schrieb in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges, dass die Menschen, die an „Pest“ erkrankt waren und sie überstanden hatten, nicht mehr erkrankten.

 

Was waren die ersten „Impfungen“ und waren sie schon vergleichbar mit den heutigen Impfungen?

Die ersten Impfungen – das Wort kommt übrigens von der Botanik und aus der Landwirtschaft und bedeutete ursprünglich das Pfropfen von Pflanzen mit Teilen einer weiteren Pflanze, um sie zu ‚veredeln‘ – waren Maßnahmen gegen die Pocken. Die Impfung wurde seit dem zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts über das damalige Osmanische Reich in Europa eingeführt. Man übertrug kleine Mengen Pockenmaterial auf gesunde Personen (Kinder) durch eine Einritzung in der Haut. Am Ende des 18. Jahrhunderts wandelte sich die Impfung (eben die Übertragung von menschlichen Pockenmaterial) in eine Vakzination, aufgrund der Beobachtungen und Experimente Edward Jenners. Weitere Ärzte hatten aber schon an der Methode gearbeitet. Jenner impfte mit Kuhpockenmaterial aus der Beobachtung her, dass diejenigen, die an Kuhpocken erkrankt waren, nicht mehr an den menschlichen Pocken erkrankten. Seit dieser Zeit sprach man von Vakzination und das Wort ist in vielen modernen Sprachen angekommen. Diese Impfungen fanden statt, ohne dass der auslösende Erreger – in diesem Fall ein Virus – isoliert/entdeckt war.

 

Wann wurde das Virus isoliert und ist eine Impfung heute ohne Wissen um den Erreger noch möglich?

Das Pockenvirus wurde 1906 isoliert. Heute suchen wir bei Infektionskrankheiten, auch bei neuen Infektionskrankheiten, nach Erregern, da die Bakteriologie und die Virologie ein Paradigma geschaffen haben. 

 

Wie hat die Verbreitung der Impfungen gegen die Pocken-Krankheit stattgefunden?

 

Im Laufe des 18. Jahrhunderts adaptierten zunehmend viele Staaten die Impfung und dann die Vakzination und man merkte, dass die Sterblichkeitsrate an Pocken bei geimpften Personen deutlich niedriger war als bei den nicht geimpften. Durch die Verbreitung der Pockenimpfung sank weltweit die Morbidität (Anm. von "Impf-Dich": Krankheitshäufigkeit bezogen auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe), so dass 1980 die Pocken als ausgerottet erklärt wurden.

 

Schon bald nach Einführung der ersten Impfungen in Europa gab es Impfkritik und Zweifler. Woher kam deren Angst, was waren deren Argumente?

Die Impfung ist eine medizinische Maßnahme in absentia: Man impft Gesunde, damit sie nicht erkranken. Sie zeigt keinen unmittelbaren Vorteil, im Unterschied zu therapeutischen Maßnahmen, die zu einer Heilung kommen. Dass man an Gesunden etwas angebracht hat, ist zweifelsohne ein Auslöser von Skepsis und Bedenken. Bei vielen medizinischen (und nichtmedizinischen) Autoren des 18. und 19. Jahrhundert findet man das Argument der ärztlichen Gier (Impfen tue nur den Taschen der Impfärzte Gutes). Weitere Argumente historischer Impfgegner waren die Unsicherheit des Ergebnisses und das der Gefährlichkeit der Impfung selber. Auch war das Argument der Natürlichkeit verbreitet: Lassen wir Gott oder die Natur entscheiden, ob wir erkranken oder nicht erkranken, ohne zu interferieren.


Es fällt auf, dass die damaligen Argumente denen der heutigen Impfkritiker stark ähneln. Können Sie sich erklären woher dies kommt, obwohl die heutigen Impfungen ganz andere sind und die Impfstoffe und das Impfsysteme stetig weiterentwickelt und verbessert wurden?

 

Argumente wie das der Natürlichkeit kommen immer wieder – die Lebensreformbewegung hat am Anfang des 20. Jahrhunderts diesen Gedanken neue Impulse gegeben. Die heutigen Impfkritiker in den reichen Ländern kennen aber nur eine „Natur“, in der keine gravierenden Infektionskrankheiten wie die Pocken oder die Polio existieren – dank der Impfungen – und sehen deren Notwendigkeit nicht mehr.


Wissenschaftskritische Artikel und Internetseiten, bis hin zu Verschwörungstheoretikern, bedienen sich häufig gleicher Argumentationsstränge und stellen im Kern ähnliche Thesen auf, bleiben aber entsprechende Evidenz schuldig. Gibt es diesbezüglich eine Erklärung aus der Medizin- oder Wissenschaftsgeschichte, wie Menschen mit Fortschritt – auch medizinischem Fortschritt – umgehen?

 

Medizinischer Fortschritt ist vielfach auf Bedenken gestoßen, weil er Ängste auslöst, weil vermeintlich soziale Interessen beeinträchtigt schienen, oder da man diejenigen, die den Fortschritt propagieren, nicht überzeugend findet. Manchmal gab es in der Einführungsphase signifikanter Erfindungen kleinere Rückschläge oder passierten Fehler – das begünstigte dann generelles Misstrauen. Im Fall der Impfkritik spielt auch der Faktor des Vergessens eine Rolle: Wir haben keine Erinnerung an Epidemien, so dass die Impfung als unnötig erscheinen kann. Daher die sogenannte Impfmüdigkeit: Man ist nicht unbedingt explizit gegen Impfungen, sieht aber nicht (mehr) ihre Notwendigkeit, weil man verwöhnt ist von Jahrzehnten optimaler medizinischer Versorgung.

Eine moderne impfkritische These ist die Behauptung, dass die Masernimpfung Autismus verursachen würde. Woher kommt eine solche Theorie (und wer ist maßgeblich für die Aufstellung und Verbreitung dieser These verantwortlich)?

Diese These ist barer Unsinn. Durch heutige soziale Medien verbreiten sich Gerüchte solcher Art viel rascher und weiter als noch vor 20 Jahren. Die hohe emotionale Aufladung einer solchen angeblichen Nachricht (insbesondere, wenn Kinder involviert sind) und die heutige Verfügbarkeit von schnellen Informationswegen sind die beste Mischung, um solche Assoziationen zu verbreiten. Vor 200 Jahren haben sich Nachrichten über Nebenwirkungen von Impfungen (die es immer gegeben hatte, obwohl die Vorteile überwogen) langsamer verbreitet und haben weniger Menschen erreicht. Deswegen ist es nötig, die heutige Schnelligkeit der Kommunikationswege auch umgekehrt für rasche Aufklärungsaktionen zu nutzen.

Die Assoziation zwischen Impfung (Masern-Mumps-Röteln) und Autismus wurde 1998 im Lancet vom britischen Gastroenterologen Andrew Wakefield u.a. behauptet, - auf der Basis von wenigen Fällen von negativen Reaktionen auf die Impfung. Es stellte sich heraus, dass der Artikel auch den Zweck hatte, Eltern von vermeintlich Betroffenen eine Klage gegen die Pharmaindustrie zu erleichtern. Er wurde von der Zeitschrift zurückgezogen, nachdem ein Journalist dies entdeckt hatte. Der Beitrag hatte in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts tatsächlich die Folge, dass die MMR-Impfrate in England dramatisch sank. Die Assoziation wurde also nie bestätigt und gilt jetzt als inexistent.

 

Heute wird in den Medien und in der Politik stark über die Impfpflicht und ihre Vor- und Nachteile diskutiert. Gab es in Deutschland vormals schon eine Impfpflicht?

 

1874 trat das Reichsimpfgesetz in Kraft: Alle Kinder mussten seitdem gegen Pocken geimpft werden. Das Gesetz wurde als Eingriff in die persönliche Freiheit kritisiert und gelockert, sogar im Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es obligatorische Impfungen in der DDR, während in der BRD nur die Pockenimpfung bis 1975 Pflicht war. Im Infektionsschutzgesetz ist allerdings die Möglichkeit einer Impfpflicht bei Epidemien verankert. Im Übrigen ist die Einführung einer differenzierten Impfpflicht grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar, kann bei Bedarf also vorgesehen werden.

 


Was bedeuten Impfungen für Sie heute und hat die Beschäftigung mit ihrer Geschichte Ihre Einstellung zu Impfungen beeinflusst?

 

Ich persönlich habe dadurch, dass ich mich mit der Geschichte der Impfungen und der Impfgegner beschäftigt habe, meine Position bestärkt, dass eine Impfpflicht bei bestimmten Infektionskrankheiten weitaus mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt. Das allgemeine Infektionsrisiko z. B. in Kindergärten wird gemindert, - so hoffe ich nun, dass die Masernimpfung sich bald durchsetzen kann. 
Impfungen sind eine der Garantien des Erhalts unserer hohen Gesundheitsstandards und es ist absolut nötig, natürlich unter Berücksichtigung von Einzelfällen von Immuninsuffizienz, sie weiter zu praktizieren, als Schutz für Geimpfte und Nichtgeimpfte.