Teilnehmer: 
Prof. Dr. Lothar H. Wieler
Nora Marie Uhlig
Anna Knauthe 
Cheyenne Sonnenschein

 

Wie alarmierend sind für Sie die Schlagzeilen über Masernausbrüche? 

Die Masernausbrüche sind zurzeit auf zwei verschiedenen Ebenen zu beobachten. Zum einen lokal bzw. regional in Deutschland und Europa, zum anderen stellen sie aber auch in anderen Teilen der Welt ein Problem dar, wie zum Beispiel jüngst in Samoa1. Masern sind eine impfpräventable Erkrankung und führen trotzdem zu vielen Todesfällen weltweit. Das ist ein alarmierendes Zeichen, denn Impfen ist eine Public-Health- Aufgabe, die offensichtlich nicht in ausreichendem Umfang umgesetzt wird.

 

Gibt es seitens des RKI Strategien, wie man der steigenden Quote an Impfgegnern oder nicht Geimpften begegnen möchte? Welche konkreten Möglichkeiten sehen Sie, die Aufklärung über das Impfen auszuweiten bzw. eine größere Zielgruppe zu erreichen? Gibt es zum Beispiel Strategien Ihrerseits, auch junge Menschen anzusprechen?

Zunächst möchte ich folgendes feststellen: Die Aufgabe des RKI ist es, Informationen für Fachpersonal wie zum Beispiel Ärzte herauszugeben. Dahingegen ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung dafür zuständig, diese Informationen auch für die Öffentlichkeit aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen.

Wir informieren beispielsweise darüber, warum es sinnvoll ist zu impfen. Faktenblätter zum Beispiel fassen die wichtigsten Informationen zu verschiedenen Impfungen zusammen und können z.B. für das Arzt-Patienten-Gespräch hilfreich sein. Unsere Aufklärung ist sachlich und fachlich fundiert und wird über unsere Webseite, über Paper, Publikationen, Fachkongresse und nationale Impfkonferenzen verbreitet. Außerdem arbeiten wir an Forschungsprojekten2 um Wissen zu generieren, das bislang fehlt. Zum Beispiel untersuchen wir Keuchhusten-Ausbrüche in Kindertagesstätten und Schulen, um die Effektivität von Pertussis-Impfstoffen zu analysieren.

Des Weiteren ist dem RKI die STIKO, die Ständige Impfkommission, angesiedelt. Diese veröffentlicht evidenzbasierte Impfempfehlungen. Der Gemeinsame Bundesausschuss entscheidet, ob eine Impfung von den Krankenkassen gezahlt wird. Es gibt auch eine STIKO-App, die neben der Internetseite alle Informationen zu den wichtigsten Impfungen transparent für Ärzte zugänglich macht. Nun möchte ich auf Ihre Frage eingehen. Das Wort Impfmüdigkeit ist in meinen Augen nicht zielführend. Gegen Masern zum Beispiel sind mehr als 95% der Schulkinder immerhin einmal geimpft, nach einer Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung3 sehen 3% der Bevölkerung Impfungen „eher ablehnend“, 2% der Bevölkerung „ablehnend“. Diese sind aber nicht unser Zielklientel. Wir wollen die Menschen erreichen, die nicht grundsätzlich gegen Impfungen sind, sondern aus Unsicherheit oder mangelnder Aufklärung nicht impfen. Es braucht gut informierte Ärzte, die mit vernünftigen und fachlich fundierten Argumenten ihre Informationen an die Eltern weitergeben können.

Eine unserer Hauptaufgaben ist es, mit validen Daten unaufgeregt sachliche Informationen herauszugeben. Viele Menschen lassen sich aus Unsicherheit nicht Impfen, deshalb sind Ärzte unsere Peer Group: Die Leute wollen von Ärzten informiert werden, auch vom Pflegepersonal, und wir müssen kontinuierlich an der Information der Ärzte und des medizinischen Personals arbeiten.

 

Wie finden Sie den Vorschlag der Bildungsministerin Anja Karliczek, Impfungen an Schulen anzubieten, wie es mit dem “Präventionsbus” der Charite 2017/18 getan wurde? Kann Ihrer Meinung nach die dadurch gegebene niedrigere Schwelle zur 2. Masernimpfung dazu führen, dass die angestrebte Impfquote von 95% erreicht wird?

Wir nennen das ein aufsuchendes Impfangebot. Public Health Angebote müssen auch vor Ort stattfinden. Wir würden es befürworten, wenn Impfbusse oder ähnliche Aktivitäten in Schulen etc. stattfänden. Es gibt ja auch ein Präventionsgesetz, welches theoretisch genau solche Projekte adressiert. Leider scheitert es vor allem an den Ressourcen. Aufsuchende Impfangebote haben tatsächlich den besseren Effekt, funktionieren aber nur flankiert von intensiver Aufklärungsarbeit und guter Projektplanung. Vielleicht sagt Ihnen der Name Frau Prof. Dr. Cornelia Betsch etwas: Sie ist eine Wissenschaftlerin an der Universität Erfurt, eine der wenigen in Deutschland, die zur Psychologie des Impfens forscht. Sie hat festgestellt, dass ein Großteil der Menschen, die nicht geimpft werden, das aus verschiedenen Gründen einfach nicht hinkriegen. Da spielt Organisation eine große Rolle: Es müssen Termine vereinbart werden, die mit dem Job, der Kinderversorgung und anderen Aktivitäten kompatibel sein müssen. Allein das stellt oft schon eine Hürde dar. Es ist sinnvoller, wenn die Menschen in ihren Lebenswelten abgeholt werden. Außerdem müssen auch digitale Erinnerungen geschaffen werden. Aber aufsuchende Impfangebote sind immer das Effektivste. Und nicht zu vergessen: eine große Hürde, das fachübergreifende Impfen, ist bislang in Deutschland nicht üblich, dies wird aber zum Glück mit dem Masernschutzgesetz geändert.

 

Wie stehen sie zur Digitalisierung der Impfdaten ggf. auch im Rahmen einer elektronischen Patientenakte?

Aufgrund des geringen Grades an Digitalisierung bieten wir den Patienten nicht genügend Versorgung an. Das macht mich sehr unglücklich. Allein der hohen Rate an Fehlmedikationen aufgrund von nicht nachvollziehbarer Polypharmazie könnte durch digitale Lösungen vorgebeugt werden. Das Gesundheitssystem hat wahnsinnig viele Daten vorliegen, leider aber in verschiedenen Datensilos, die aus verschiedenen Gründen nicht zusammengeführt werden. Wir könnten mit Hilfe dieser Daten unglaubliche Fortschritte in der Forschung machen, die der Patientensicherheit zu Gute kommen würden. Ärzte sind keine Techniker und es ist nicht allein die Aufgabe der Ärzte, Digitalisierung durchzusetzen, aber in Zusammenarbeit mit Experten verschiedener Fachbereiche ließe sich diese Aufgabe bewältigen. Ich bin überzeugt, dass viele Patienten darunter leiden, dass zu wenige Daten digitalisiert sind.

Der Deutsche Ethikrat hat sich deutlich positioniert, in seiner Stellungnahme Big Data und Gesundheit. Wir sind ein sehr liberales Land, bieten den Patienten aber aufgrund zu geringer Nutzung vorhandener Daten aber nicht die bestmögliche Versorgung, allerdings stellt sich das in unserem komplexen Gesundheitssystem meiner Meinung nach auch als schwierig dar.

Das RKI arbeitet nicht in der Versorgung, wir arbeiten z.B. mit Sekundärdaten aus den Abrechnungsdaten der Ärzte. So nutzen wir auch viele Daten von der Kassenärztlichen Vereinigung, welche wir dann unter anderem im Rahmen der Impfsurvelliance auswerten, visualisieren und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Diese Daten liefern einen guten Überblick und gehen mit einer sehr niedrigen Fehlerquote einher. Um diese Daten zu bekommen, müssen wir allerdings Verträge mit der KV und den Krankenkassen schließen, was uns Zeit, juristischen Aufwand und damit auch Ressourcen kostet. Demnach würden wir die einheitliche und anonyme digitale Speicherung von Krankendaten befürworten, auf die wir ohne Umweg über die KV Zugriff hätten. Die gesparten Ressourcen könnten wir an anderer Stelle sinnvoll zum Beispiel in der Forschung investieren. Und die Menschen in Deutschland würden profitieren. Es ist nur anhand valider Daten überprüfbar, wie bestimmte ärztliche und Public-Health-Interventionen wirken.

 

„Ein Arzt hat nicht das Recht, Unsinn zu vertreten“ (BÄK-Präsident Montgomery, 2019): Dürfen Ärzte Empfehlungen entgegen der STIKO Empfehlung aussprechen? Sollten Konsequenzen gezogen werden, wenn Ärzte (Impf-)Empfehlungen entgegen des schulmedizinischen Konsens geben?

Ärzte haben die Pflicht, über Impfungen aufzuklären. Es gibt immer Kontraindikationen, die im Einzelfall gegen eine Impfung sprechen. Es ist aber die Pflicht des Arztes, korrekt aufzuklären. Wenn ein Arzt bewusst ohne bestehende Kontraindikation von einer Impfung abrät, ist das ein ethisches Vergehen. Da wäre ein Eingreifen der Ärztekammer erforderlich.

Die härteste Maßnahme gegen ein solches ethisches Vergehen wäre der Entzug der Approbation, vorher sollten aber verpflichtende Weiterbildungsmaßnahmen eingeführt werden.

 

 

Was denken Sie, welche neuen Impfungen realistischer Weise in den nächsten 10 Jahren auf dem Markt sein werden? Wie ist der Entwicklungsstand zum neuen Tuberkuloseimpfstoff?

Die Impfstoffforschung nimmt immer weiter zu, ich bin sehr optimistisch. Der aktuelle Tuberkuloseimpfstoff basiert auf BCG, dazu läuft aktuell eine Phase 3 Studie.

Impfforschung ist ein wichtiges Thema auch im Hinblick auf die fortschreitenden Antibiotikaresistenzen, denn wer mehr Infektionsprävention betreibt, braucht natürlich auch weniger Antibiotika. Leider sind viele antibiotikaresistente Erreger Kommensalen, es ist daher umstritten, gegen diese zu impfen. Zudem erschwert dies die Forschungserfolge.

Wichtig ist vor allem, vorhandene Impfstoffe zu verbessern. Besonders die Weiterentwicklung der Influenzaimpfung ist sehr wichtig. Influenzaviren verändern sich kontinuierlich, sie verursachen in schweren Grippewellen alleine in Deutschland mehr als 20.000 Todesfälle. Die Impfung muss jedes Jahr angepasst werden. Außerdem können durch Reassortment völlig neue Influenzaviren entstehen. Wenn sich ein solches neuartiges Influenzavirus leicht von Mensch zu Mensch verbreitet, Erkrankungen beim Menschen hervorruft und der Großteil der Bevölkerung keine oder nur geringe

Immunität hat, kann das Virus eine Influenzapandemie auslösen. Ziel ist es, einen Universalinfluenzaimpfstoff zu entwickeln, um nicht jedes Jahr die neuen saisonalen Erreger voraussagen zu müssen, gegen die dann geimpft werden muss und auch gegen ein pandemisches Virus besser gewappnet zu sein.

Eine große Errungenschaft ist die Impfung gegen HPV. HPV-Infektionen können Krebs verursachen. HPV-Impfstoffe schützen zu nahezu 100 % vor einer Infektion mit in den Impfstoffen enthaltenen HPV-Typen und können somit Krebs verhindern4.

 

 

Für wie sinnvoll erachten Sie die Grippeimpfung? Würden Sie jeder Person empfehlen, sie jährlich durchzuführen? Impfen Sie sich immer gegen die Grippe? Warum berichten viele Patienten gerade nach einer Grippeimpfung von einer stärkeren Impfreaktion?

Die Risikogruppe für Influenza ist vor allem die Gruppe der multimorbiden Menschen. In der Saison 2017/18 gab es über 20.000 Tote durch Influenza. Die Impfung ist schwierig, vor allem weil die Effektivität der Impfung nicht optimal ist und durch Multimorbidität weiter eingeschränkt wird. Das Prinzip der Influenzaimpfung beruht, wie schon erwähnt, immer noch darauf, dass die WHO im Februar/März empfiehlt, gegen welche Influenzastämme im Herbst geimpft wird5. Wir hoffen aber wie gesagt auf die Entwicklung eines Universalimpfstoffes. Außerdem forschen Wissenschaftler an der Erkennung hoch-spezifischer neutralisierender Antikörper bei Infizierten, die als Therapeutikum dienen können.

Ein weiterer Fokus liegt auf der sogenannten host adapted therapy. Diese soll das T-Zell-System des Menschen aktivieren und so die Immunantwort verstärken. Ich kann jedoch nicht abschätzen, in welcher Zeit hier Durchbrüche erreicht werden können.

Mit den aktuellen Impfstoffen haben wir nur eine Effektivität von 30-60%. Die Influenza-Impfstoffe müssen eindeutig besser werden. Es besteht auch ein Kommunikationsproblem, denn wir fordern die Menschen auf, sich impfen zu lassen, und trotzdem werden nicht wenige aufgrund der moderaten Effektivität der Impfung krank. Immerhin wurde in zahlreichen Studien gezeigt, dass eine Influenzaerkrankung bei geimpften Personen mit weniger Komplikationen verläuft als bei Ungeimpften.

Aber natürlich würde es auch helfen, wenn die Impfraten hochgingen, man will ja auch Andere um sich herum schützen. Ich kann beispielsweise nicht nachvollziehen, wenn Ärzte sich nicht impfen lassen. Das ist ein Risiko für die Patienten, und es gibt inzwischen auch viele Arbeitgeber, die bei Einstellung eine Impfung fordern.

Bezugnehmend auf Ihre Frage zu stärkeren Impfreaktionen nach der Grippeimpfung: Nach der Impfung dauert es 10 bis 14 Tage, bis der Impfschutz vollständig aufgebaut ist. Möglicherweise fällt der Zeitpunkt der Impfung genau in die Inkubationszeit, sodass ein zeitlicher Zusammenhang zur Grippeerkrankung besteht, jedoch kein kausaler. Die Grippeimpfung ist in der Regel gut verträglich. In Folge der natürlichen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es bei der Impfung– wie bei anderen Impfungen auch – vorübergehend zu Lokalreaktionen wie leichten Schmerzen, Rötung und Schwellung an der Impfstelle kommen. Fakt ist, dass man durch die eigentliche Grippeimpfung nicht an Influenza erkranken kann, denn diese ist eine Totimpfung. Es werden nur Antigene appliziert, die kein pathogenes Potential haben. Des Weiteren darf eine Grippe nicht mit einer normalen Erkältung gleichgesetzt werden, wie es leider oft der Fall ist. Die Influenza ist eine ernstzunehmende Erkrankung mit sehr starken und vor allem für immungeschwächte Patienten potentiell lebensgefährlichen Symptomen. Durch die Gleichsetzung mit einer Erkältung wird die Grippe verharmlost, und die Impfbereitschaft sinkt.

 

Sollte die Impfung gegen Influenza mehr beworben werden?

Es wird schon viel gemacht. Fast alle Medien berichten im Herbst über die Grippeschutzimpfung, aber letztendlich liegt die Entscheidung beim Patienten. Es ist sehr schwer, über Kampagnen Menschen zu erreichen. Werbung wird gesehen und dann durch andere Ereignisse wieder überlagert. Es ist essentiell, dass die Information über Ärzte an die Patienten weitergegeben wird und dass fachlich fundierte Aufklärung beim Arzt stattfindet.

 

Ich lasse mich impfen, weil…

...ich weiß, dass Impfungen sinnvoll sind und wirken, um mich und andere zu schützen.

 

1 RKI-FAQ. https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/HPV/FAQ-Liste_HPV_Impfen.html?nn=2375548
2 https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Forschungsprojekte/Forschungsprojekte_node.html
3 https://www.bzga.de/forschung/studien-untersuchungen/studien/impfen-und-hygiene/infektionsschutz- einstellungen-wissen-und-verhalten-von-erwachsenen-und-eltern-gegenueber-impfunge/ - dort Seite 31
4 RKI-FAQ. https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/HPV/FAQ-Liste_HPV_Impfen.html?nn=2375548
5 https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/Influenza/faq_ges.html?nn=2375548